Interview

«Die FDP ist unser grösstes Sorgenkind» – so will die Operation Libero die Schweiz verändern

Sanija Ameti wird neue Präsidentin der Operation Libero. Im Interview mit der NZZ kündigt sie eine Europa-Initiative an und versucht, die Treichler von links und rechts zu übertönen.

Georg Häsler, Bern
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«Ich repräsentiere die Geschichte der vielen jungen Menschen in der Schweiz, die sich als Flüchtlingskinder die Privilegien in diesem Land erarbeiten mussten», sagt Sanija Ameti, die neue Präsidentin der Operation Libero.

«Ich repräsentiere die Geschichte der vielen jungen Menschen in der Schweiz, die sich als Flüchtlingskinder die Privilegien in diesem Land erarbeiten mussten», sagt Sanija Ameti, die neue Präsidentin der Operation Libero.

Simon Tanner / NZZ

Seit die Operation Libero nicht mehr gegen die SVP-Initiativen kämpfen kann, ist sie höchstens noch Teil des urbanen Lifestyles. Was bleibt Ihnen mehr, als den Nachlass der Liberallalas zu verwalten?

Heute stehen wir vor einer neuen Ausgangslage. Die FDP stösst den liberal-progressiven Flügel ab, sie ist mit Machterhalt und Parteipolitik überfordert und hinterlässt ein liberales Vakuum nicht nur beim Grundrechtsschutz im digitalen Raum, sondern auch in der Europapolitik. Eigentlich wäre es die Aufgabe der Bundesräte und der Bundesratsparteien – allen voran der FDP –, die Bevölkerung an solche Zerreissproben, wie die institutionellen Fragen sie leider mit sich bringen, heranzuführen und sie so konstruktiv wie möglich zu bestehen.

Sie weichen aus. Weshalb braucht es die Operation Libero noch?

Moment, lassen Sie mich ausreden. Statt am Wohl des Landes richten der Bundesrat und die Parteien die Europapolitik an ihren Wiederwahlterminen aus und übernehmen ihre verfassungsmässige Verantwortung nicht. Deshalb können wir es uns nicht mehr leisten, unsere Zeit mit SVP-Gegenkampagnen zu verlieren. Die Schweiz muss jetzt den Grundstein für die Zukunft legen. Wir müssen das Land neu gestalten. Die Operation Libero als überparteiliche, liberale Kraft, selber nicht an Wahltermine und Parteipolitik gebunden, braucht es deshalb mehr als je zuvor.

Liberal ist heute offenbar, wer nicht gerade dem Sozialismus nachtrauert.

Die liberale Familie ist zwar gross, aber es ist klar, wer dazugehört und wer nicht. Es gehören alle dazu, die jeder Anhäufung von Macht misstrauen, die allen Menschen gleiche Würde und Rechte zugestehen, die an die Möglichkeit von Fortschritt glauben und die glauben, dass Konflikte über Ressourcen und Interessen zwar gezähmt, aber nicht überwunden werden können. Alle, die staatliche Macht oder Souveränität als Selbstzweck behandeln, gehören nicht dazu. Alle, die zwar Angst vor Staatsmacht, aber nicht vor der Macht von Konzernen haben, gehören nicht dazu. Alle, die bereit sind, Menschen aufgrund der Umstände ihrer Geburt zu diskriminieren, gehören nicht dazu.

Zur Person

Sanija Ameti

Sanija Ameti

Die neue Präsidentin der Operation Libero wurde 1992 im damaligen Jugoslawien geboren und kam 1995 mit ihren Eltern als Flüchtling in die Schweiz. Sie studierte Recht und dissertiert an der Universität Bern. Ameti ist Mitglied der Parteileitung der Grünliberalen des Kantons Zürich.

In Deutschland laborieren die Grünen und die FDP an einer grün-liberalen Plattform herum. Das müsste Ihnen gefallen.

Mein zweites, grünliberales Herz macht Freudensprünge.

Das freiheitliche Original in Europa ist die freisinnige Bewegung der Schweiz. Weshalb gehen Sie nicht mehr zurück zu den radikalen Wurzeln hier in der Schweiz?

Indem wir das liberale Vakuum, welches die FDP hinterlässt, zu füllen versuchen und uns an die liberalen Werte der Verfassung halten, welche die freisinnige Bewegung erschaffen hat, versuchen wir genau diese Erneuerung jener radikalen Idee.

Sie haben das Anti-Terror-Gesetz, bekannt unter der Abkürzung PMT, vehement bekämpft. Kritische Stimmen sagen: Damit haben Sie sich verrannt.

Im Gegenteil. Damit habe ich erst erkannt, was unser Problem ist. Dem PMT-Gesetz fehlt die Verfassungsgrundlage, es verstösst gegen das oberste liberale Gebot, dass staatliches Handeln verhältnismässig sein muss, und missachtet Grundrechte – und das PMT-Referendum hat die grundsätzlichste aller Fragen für unser Land auf den Tisch gebracht: Sind wir ein liberaler Rechtsstaat? Diese Frage hat die FDP mit ihrer Haltung zum PMT-Gesetz verneint und verwirft jene Errungenschaften, welche sie einst in unsere Verfassung getragen hat. Das ist höchst besorgniserregend, aber zumindest wissen wir jetzt, wo wir stehen: Nicht die SVP, welche mit ihren Trötzeleien mitten in der Krise unsere Zeit verschwendet, bedroht die Stabilität und Sicherheit dieses Landes, sondern eine FDP, welche ihre ursprüngliche staatstragende Funktion nicht mehr erfüllt. Das PMT-Referendum hat dies offengelegt und die Operation Libero aufgerüttelt. Es geht um die Frage: Bekennen wir uns noch zu den liberalen Grundsätzen unserer Verfassung? Wenn dieses Bekenntnis keine Mehrheit findet, will ich nicht mehrheitsfähig sein.

Aber hallo? Es ist jetzt einfach Ihre Taktik, auf die FDP einzuprügeln. Das schafft Aufmerksamkeit.

Nein, die FDP ist unser grösstes Sorgenkind. Wir müssen uns auf unsere liberale Verfassung rückbesinnen – das sage ich mit meinem Operation-Libero-Hut. Für meine Partei, die Grünliberalen, ist der jetzige Zustand der FDP ein strategischer Segen.

Nach dem Abgang von Flavia Kleiner ist die Operation Libero geschrumpft. Kürzlich stand die Organisation sogar praktisch vor dem Aus. Wann geht Ihnen das nächste Mal das Geld aus?

Das stimmt nicht. Die Operation Libero ist bei der Anzahl Mitglieder sowie Unterstützer, mit ihrer Geschäftsstelle und im Budget gewachsen. Aber sie musste auch erwachsen werden. Das bedeutete schwierigere und nachdenklichere Kampagnen – und dass die ursprüngliche Finanzierung rein über Spendenaufrufe für Kampagnen nicht mehr so einfach funktionierte. Aber wir haben eine phantastische Basis, die uns über diese schwierige Phase des Erwachsenwerdens gebracht hat und die uns auch in eine finanziell nachhaltige Zukunft tragen können wird. Schon heute können wir sagen, dass wir finanziell stabiler abgesichert sind als je zuvor.

Wer sagt eigentlich, was der Kurs der Operation Libero ist? Die Geldgeber? Sie?

Die Operation Libero ist so finanziert, dass sie maximale Unabhängigkeit von ihren Geldgebern hat, da ihre Geldgeber eine Vielzahl kleiner Spenderinnen und Spender sind. Jeder Einsatz für ein bestimmtes Thema ist immer auch ein Plebiszit darüber, wie viele Menschen sich dafür engagieren oder dafür spenden wollen. Der Vorstand entscheidet gemäss der neuen Strategie und in Rücksprache mit den aktiven Mitgliedern, zu welchen Themen wir uns einbringen wollen.

Treichler verschiedenster Art, ob für die Freiheit oder für das Klima, machen heute mehr Lärm als die Operation Libero. Mit welchen Themen wollen Sie sich Gehör verschaffen?

Wir werden den Parteien die unbeliebtesten, aber strukturell wichtigsten Themen überhaupt aufzwingen: Europapolitik, Digitalisierung und Cybersicherheit sowie die Forderung eines liberalen Bürgerrechts zur Stärkung der Demokratie. Bei diesen Themen geht es schliesslich auch um sicherheitspolitische Aspekte. Etwa die starke Vernetzung des Schweizer Markts mit den europäischen Märkten bedeutet, dass die Sicherheit des Schweizer Stromsystems von jenem der EU abhängt. Eine der grössten Gefahren für unsere kritische Infrastruktur sind Cyberangriffe auf schwache Komponenten in den Lieferketten der europäischen Marktteilnehmer. Die Europafrage ist für die Schweiz somit nicht nur aus wirtschaftlicher, sondern auch aus sicherheitspolitischer Sicht das derzeit grösste strukturelle Problem.

Das heisst konkret?

Die Operation Libero arbeitet derzeit daran, mit Partnern und Verbündeten diese Debatte mittels einer Initiative gegen die Interessen der Bundesratsparteien zu lancieren. Es darf nicht länger nur um Parteiinteressen gehen, es muss – neben geopolitischen und sicherheitspolitischen Gesichtspunkten – vor allem auch um Werte und um Identität gehen. Wir müssen darüber sprechen, wo wir als Gesellschaft hinwollen, wo der Partner ist, mit dem sich unsere Werte am ehesten decken. Am Ende ist eine Volksabstimmung über diese Fragen unausweichlich, auch wenn der Bundesrat sie ständig hinauszuzögern versucht.

An Europa haben sich Generationen die Zähne ausgebissen.

Wir haben über Generationen hinweg vergessen, dass Europapolitik ganzheitliche Sicherheitspolitik ist. Die EU ist ein Friedensprojekt. Sie ist die weltweit einzige erfolgreiche Antwort auf die zentrale Frage der Moderne: Was kommt nach dem Empire? Die Union hat in Europa zum ersten Mal in der Neuzeit eine institutionelle Situation geschaffen, in der bewaffnete Konflikte nicht unvermeidbar sind. Die EU hat damit die sozioökonomischen Bedingungen für Frieden geschaffen.

Das hören wir ebenfalls seit Jahren . . .

Weil nichts die persönliche Freiheit so erodieren lässt wie Gewalt und bewaffnete Konflikte – das sage ich aus eigener Erfahrung –, ist die EU auch ein Freiheitsprojekt. Alle Gurkenkrümmungsnormen und andere Ärgernisse der Welt über die EU können diese Freiheitsleistung nicht infrage stellen. Die Schweiz muss ein existenzielles Interesse an einer Einbindung in dieses institutionelle Projekt haben. Sie ist unsere einzige Chance auf eine Welt weiter entfernt vom Abgrund, in der wir gemeinsam Herausforderungen wie Klima, Digitalisierung und Geopolitik angehen können.

Als Liberale müssten Sie sich eigentlich für die Landesverteidigung einsetzen. Das ist die wichtigste Raison d’être des Staates.

Ist die wichtigste Raison d’être des Staates die Sicherheit oder die Freiheit des Einzelnen? Sicherheit ist wichtig. Aber nur, sofern sie der individuellen Freiheit dient. Selbstzweck ist sie nie. Unsere Sicherheit ist von grundsätzlichen strukturellen Rahmenbedingungen abhängig wie einer starken Demokratie, einem stabilen Verhältnis zu Europa und der Abwendung von durch den Klimawandel bedingten Katastrophen. Auch die Landesverteidigung reiht sich in den Europa-Diskurs ein: Ich persönlich befürworte den Kauf der F-35-Kampfjets, weil sie auch punkto Cybersecurity die beste Wahl sind und die Schweiz damit ein verlässlicher Sicherheitspartner für Europa bleibt. Aber die Jets wären noch viel besser zu rechtfertigen, wenn sie Teil einer europäischen Sicherheitspolitik wären, nicht ein Anhängsel von dieser.

Zurzeit wird viel über die Spaltung der Gesellschaft geschrieben. Werden wir uns fremd in der Schweiz?

Die aktive Spaltung unserer Gesellschaft war lange und ist immer noch das Geschäftsmodell der SVP. Zuerst Ausländer gegen Schweizer, jetzt Stadt gegen Land, Wissenschaft gegen gefühltes Wissen. Wenn wir der SVP Beachtung schenken, werden wir uns fremd. Wenn wir uns nicht darauf einlassen, können wir geeint die Zukunft unseres Landes mit all ihren Herausforderungen meistern.

Die Operation Libero sieht sich als Vertretung der «Zivilgesellschaft». Das Wort ist ein abgehobener Begriff aus dem Ausland. Die Schweizer Bevölkerung partizipiert über die direkte Demokratie.

Die Operation Libero funktioniert ja auch in allererster Linie über die direkte Demokratie. Ohne sie wäre es schwierig, sich unsere Bewegung vorzustellen. Aber zurück zur Partizipation der Bevölkerung und zur direkten Demokratie: Einem ganzen Viertel der Schweizer Bevölkerung bleibt diese Partizipation derzeit verwehrt, weil er keinen Schweizer Pass hat. Ein Viertel dieses Landes muss staatliche Massnahmen und Eingriffe in seine persönliche Freiheit erdulden, ohne dass er die Möglichkeit hätte, sich zu den Gesetzen zu äussern, welche die Legitimationsgrundlage für diese staatlichen Eingriffe bilden. Das ist der Schweiz als selbsternannter Wiege der liberalen und direkten Demokratie unwürdig. Es ist deshalb höchste Zeit für ein liberales Bürgerrechtsgesetz, welches den Zugang zur Einbürgerung ohne Willkür und Schikane sicherstellt.

Bisher war die Operation Libero ein exklusiver Klub für Söhne und Töchter aus gutem Haus.

So exklusiv wird sie nicht sein können, sonst hätte mich die Operation Libero nicht geholt. Ich bin in Oerlikon aufgewachsen, wie die meisten von uns auch irgendwo in der Agglomeration aufgewachsen sind. In Sursee oder im Emmental oder im St. Galler Rheintal. Ihre Eltern waren meist Lehrer oder Ähnliches und nicht reich. Sie kommen aus dem Mittelstand.

Sie stehen für die vielsprachige Schweiz und repräsentieren damit einen gewichtigen Teil der schweizerischen Realität. Wie wollen Sie dies einbringen?

Ich repräsentiere die Geschichte der vielen jungen Menschen in der Schweiz, die sich als Flüchtlingskinder die Privilegien in diesem Land erarbeiten mussten. Es ist eine neue Generation, die wir zunächst als Teil dieses Landes anerkennen müssen, weil sie dieses Land mittragen wird, ob das allen passt oder nicht. Die Operation Libero wird sich deshalb für ein liberales Bürgerrecht einsetzen, damit dieser Teil der Bevölkerung als vollwertiges Mitglied der Schweiz anerkannt wird. Dies bedeutet handkehrum, dass dieser Teil Mitverantwortung für dieses Land übernehmen muss. Politik betreiben heisst eben Verantwortung für dieses Land übernehmen. Für mich persönlich ist die grösste Herausforderung, das vorzuleben und andere zu ermutigen, sich auch politisch einzubringen.